Sind Sie mit mir verwandt?

Friedrich Nietzsche:

Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund ist, haben die Verwandten mit einem Ausdruck bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes "Freund" ist. Dies bleibt mir unerklärlich.

Kurt Tucholsky (1923):

Die Familie (familia domestica communis: die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustand. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie "Verwandtschaft". Die Familie erscheint meist zu scheußlichen Klumpen geballt und würde bei Aufständen dauernd in Gefahr laufen, erschossen zu werden, weil sie grundsätzlich nicht auseinandergeht.

Die Familie weiß voneinander alles: Wann Karlchen die Masern gehabt hat, wie Inge mit ihren Schneider zufrieden ist, wann Erna den Elektrotechniker heiraten wird und dass Jenny nach der letzten Auseinandersetzung nun endgültig mit ihrem Mann zusammenbleiben wird. Derartige Nachrichten pflanzen sich vormittags zwischen elf und eins durch das wehrlose Telefon fort. Die Familie weiß alles, missbilligt es aber grundsätzlich. Andere wilde Indianerstämme leben entweder auf den Kriegsfüssen oder rauchen eine Friedenszigarre. Die Familie kann beides.

Die Familie ist sehr exklusiv. Was der jüngste Neffe in seinen freien Stunden tut, ist ihr bekannt, aber wehe, wenn es dem jungen Mann einfiele, eine Fremde zu heiraten! Hat die Familie aber einen Fremdling erst einmal in den Schoß aufgenommen, dann legt sich die große Hand der Sippe auch auf diesen Scheitel. Auch das neue Mitglied der Familie muss auf dem Altar der Verwandtschaft opfern; kein Feiertag, der nicht der Familie gehört! Alle fluchen, keiner tut's gern - aber Gnade Gott, wenn einer fehlte! Und seufzend beugt sich alles unter das bittere Joch 

Man ist sich sehr nah. Nie würde es ein fremder Mensch wagen, dir so nah auf den Leib zu rücken wie die Kusine deiner Schwägerin, a conto der Verwandtschaft. Nannten die alten Griechen ihre Verwandten die "Allerliebsten"? Die ganz junge Welt von heute nennt sie anders. Und leidet unter der Familie. Und gründet später selber eine und wird dann gerade so....

Was hält die Familie zusammen? Die gemeinsame Abstammung? Die Stimme des Blutes? Das allein kann's nicht sein. Es fehlt die Gemeinsamkeit der kleinen Hauserlebnisse. Und die sind es, die die Familie zu einer kompletten Einheit zusammenschweißen, mit Verlaub zu sagen. Familienmitglieder sind alte Kriegskameraden. Denn die Vertraulichkeit zwischen den Angehörigen desselben Familienstammes, eine Vertraulichkeit, die dem anderen noch die Haut abschält, um zu sehen, was darunter ist, stammt daher, dass alle Beteiligten, Schulter an Schulter und Unterhose an Unterhose den Stürmen des Lebens getrotzt haben. Der Familienkalender hat eine eigene Einteilung und mit dem gregorianischen wenig zu tun.

Irgendeine Möglichkeit, sich der Familie zu entziehen, gibt es nicht. Und wenn die ganze Welt zugrunde geht, so steht zu befürchten, dass dir im Jenseits ein holder Engel entgegenkommt, leise seinen Palmwedel schwingt und spricht: "Sagen Sie mal - sind wir nicht miteinander verwandt-?" Und eilends, erschreckt und im innersten Herzen gebrochen, enteilst du. Zur Hölle. Das hilft dir aber gar nichts. Denn da sitzen alle, alle die anderen.

Blut ist dicker als Wasser; Krach ist dicker als Blut und stärker als alle drei beide ist die
Gewöhnung.
(Auswahl und Bearbeitung)


Kurt Tucholsky

Die Familienzugehörigkeit befördert einen Krankheitskeim, der weit verbreitet ist: alle Mitglieder der Innung nehmen dauernd übel. JeneTante, die auf dem berühmten Sofa saß, ist eine Geschichtsfälschung: denn erstens sitzt eineTante niemals allein, und zweitens nimmt sie immer übel -  nicht nur auf dem Sofa... Es gibt kein Familienmitglied, das ein anderes Familienmitglied jemals ernst nimmt. Hätte Goethe eine alteTante gehabt, sie wäre sicherlich nach Weimar gekommen, um zu sehen, was der Junge macht, hätte ihrem Pompadour etwas Cachou entnommen und wäre schließlich durch und durch beleidigt wieder abgefahren. Goethe hat aber solcheTanten nicht gehabt, sondern seine Ruhe -  und auf diese Weise ist der Faust entstanden. Die Tante hätte ihn übertrieben gefunden.